„Leib sein“ und „Körper“ haben – Gibt es einen Unterschied zwischen Leib und Körper?

„Leib sein“ und „Körper“ haben – Gibt es einen Unterschied zwischen Leib und Körper?

Eine Redensart zu Beginn – oder: Erst kommt der Leib und dann das Lernen

„Plenus venter non studet libenter“

… oder auf deutsch: „Ein voller Bauch studiert nicht gern.“

Diese Redensart ist weithin bekannt und man weiß aus eigener Erfahrung, was damit gemeint ist. Nach dem Essen, insbesondere einem opulenten Mahl, wird der Mensch träge. Satt macht müde. Aber umgekehrt hält einen der Hunger auch wach.

Wir kennen die (neuro)physiologischen Zusammenhänge. Nahrungsmangel, also Hunger, lässt den Blutzuckerspiegel sinken. Der Sympathikus wird aktiviert, wobei die Insulinsekretion gehemmt wird. Das signalisiert dem Gehirn (u.a. dem Hypothalamus), nach Essen zu suchen. Die Wahrnehmung wird sensitiver, der Körper gerät in Stress und wird reaktionsbereiter (Quarks 2020). Psychisch geht dies einher mit erhöhter Wachsamkeit und größerer Aggression. Umgekehrt läuft auch bei Sättigung ein Programm ab: Nach der Mahlzeit steigt der Insulinspiegel, der Parasympathikus wird aktiviert, die Magen-Darm-Sekretion steigt, die Muskelaktivität sinkt. Das geschieht alles, damit die Inhaltsstoffe dem Körper zugänglich und verfügbar gemacht werden können. Das Sättigungsgefühl geht einher mit Müdigkeit und Schlafbereitschaft (DAZ 6/2014).

Es gibt auch eine evolutionär fundierte Erklärung. So ist unser Gehirn heute noch gemäß der Bedürfnisse des Homo sapiens programmiert. Für diesen war der Hunger die Motivation zur Nahrungsbeschaffung und erforderte Wachheit bei Tageslicht. Dagegen erholte er sich bei Dunkelheit und das funktionierte am besten gut gesättigt.

Zuviel essen, zu wenig essen und überhaupt essen – all das spielt natürlich für das Lernen eine Rolle. Auch die geistige Arbeit verbraucht Energie und ist auf Kalorienzufuhr angewiesen, also auf richtige Nahrung und nicht nur geistige. In der Schule gibt es deshalb Pausen, die nicht nur zum Entspannen und Bewegen, sondern auch zum Essen da sind. Doch nicht nur der Energiebedarf des Körpers wirkt sich auf die Lernbereitschaft und Konzentrationsfähigkeit aus. Die Chronobiologie hat endogene Körperrhythmen untersucht, wie z.B. die Abfolge von Schlafen und Wachsein, die eine Zykluslänge von 24 Stunden hat. Diese wird durch den Wechsel von Tageslicht und Nacht synchronisiert und ist mit der Körpertemperatur verknüpft. Dieser Rhythmus scheint auch ohne den externen Zeitgeber von Tag und Nacht zu bestehen.

Wir müssen also nicht nur essen, sondern auch schlafen, denn Störungen in unserem Schlafwachrhythmus durch Flüge in andere Zeitzonen oder durch Schichtarbeit können zu Schlafstörungen und gesundheitlichen Problemen führen. Festgestellt wurde auch, dass die frühen Nachmittagsstunden eine höhere Neigung zum Einschlafen mit sich bringen (vgl. dazu Spektrum.de: Lexikon der Psychologie).

Leib und Körper – bedeutungsgleich oder verschieden?

Das Beschriebene hat mit Sicherheit jede:r schon einmal am eigenen Leib erfahren. Oder soll man sagen: am eigenen Körper? Nun, es ist unüblich zu sagen: „Ich habe etwas am eigenen Körper erfahren“. Wenn es aber darum geht, physiologische und neurologische Abläufe zu beschreiben, wird der Begriff des „Körpers“ verwendet.

Der Leibbegriff hat eher einen etwas altertümlichen Beigeschmack. Ebenso sind Begriffe wie Leibspeise, Unterleib, Beleibtheit, Leibarzt oder Leibschmerzen für uns heute nicht mehr sehr geläufig und verschwinden aus unserer Alltagssprache. „Leib“ begegnet uns in der christlichen Theologie in der Einheit von Leib und Seele der Person, der Auferstehung des Leibes Christi und im Sakrament der Eucharistie (Abendmahl).

Foto: Leandro Lima

Lange Zeit schien es, als würde der Begriff Leib mit „Körper“ ersetzt werden. Ende des 20. Jahrhunderts kam es zu einer Zunahme der Beschäftigung mit dem Thema Körper in den Geistes- und Kulturwissenschaften. Es wurde sogar von einem „body turn“, „somatic turn“ oder „corporeal turn“ gesprochen. Dieses neue Interesse am Körper zeigte sich nicht nur in wissenschaftlichen „Body Studies“, sondern wurde zu einem gesellschaftlichen Phänomen. Es fand seinen Ausdruck im Bedürfnis, den Körper jung und gesund zu erhalten, aber auch in neuen individuellen Körpermodifikationen wie Tätowierungen oder Piercings, die zunehmend in Mode kamen.

Leib und Körper – bezeichnen die Begriffe nun etwas Verschiedenes oder sind sie bedeutungsgleich? Interessanterweise gibt es den Begriff des Leibes nur in der deutschen Sprache. Im Englischen („body“) gibt es genauso wie im Französischen („corps“) die Differenzierung zwischen Leib und Körper nicht. Der Blick auf die begriffsgeschichtliche, etymologische Entwicklung zeigt, dass die Wurzeln von „Leib“ im althochdeutschen Wort lîb (mhd. lîp) liegen. Es hat die Bedeutung von „Leben“, aber auch von „Leib“, „Körper“ und „Gestalt“. „lîp“ wurde demnach mit Leben und Person assoziiert und in der christlichen Tradition für den beseelten menschlichen Leib gebraucht. Das lateinische Lehnwort „corpus“ bezeichnete hingegen den unbeseelten Körper von Tieren oder Menschen oder räumliche Körper im mathematischen Sinn.

Diese traditionelle, also nur im Deutschen übliche Unterscheidung von „Leib“ und „Körper“ hat demnach eine semantische Bedeutung. Mit den beiden Begriffen werden zwei unterschiedliche Beziehungen ausgedrückt. So verweist der Leib als Sitz der Seele auf das Innere des Menschen, auf sein Erleben und Fühlen. Ein Körper (das kann auch der eigene sein) ist hingegen etwas, das man von außen und aus der Distanz als Objekt betrachtet und dem man sich gegenüberstellen kann.

Der Leib-Seele-Dualismus

Das legt nahe, davon auszugehen, zwischen der Seele als „Innenwelt“ und dem Körper als „Außenwelt“ zu unterscheiden. Das Innere, die Seele, erscheint als etwas Separates, vom Körper Abgelöstes und Eigenständiges. Sie ist da, aber dennoch nicht so recht zu fassen. Es lässt sich dann so denken, dass die Seele das Äußere – den wahrnehmbaren Körper – als Instrument für ihre Zwecke nutzt.

Foto: mikoto.raw

Ein solcher Dualismus von Geist/Seele und Körper beherrscht maßgeblich das abendländische Denken und prägt viele unserer Vorstellungen noch heute. Der Leib-Seele- oder Geist-Körper-Dualismus ist ein klassisches Problem der philosophischen Reflexion. Schon die antiken Philosophen, wie z.B. Platon griffen die Frage auf, welche Beziehung zwischen der Seele und dem Leib besteht. Sie diskutierten darüber, ob es sich beim Mentalen (Geist, Seele, Bewusstsein) und beim Physischen (Körper, Leib, Gehirn) um verschiedene Substanzen handelt, ob sie vielleicht eins sind oder getrennt voneinander existieren können.

René Descartes – Foto: Wikipedia

Mit René Descartes (1596-1650) hat sich die dualistische Auffassung im westlichen Denken durchgesetzt. Er ging davon aus, dass Bewusstsein (res cogitans) und Materie (res extensa) getrennte Substanzen sind, die aber miteinander interagieren. Diese Trennung prägte die westliche Geistes- und Kulturgeschichte maßgeblich. Das brachte Max Horkheimer und Theodor Adorno dazu, im Dualismus von Körper und Geist bzw. Leib und Seele die „unterirdische Geschichte Europas“ zu sehen. In den Fragmenten am Ende ihres Buches „Dialektik der Aufklärung“ (1971) konstatieren sie, dass der Dualismus von Geist und Körper in der historischen Entwicklung zu einer „Haßliebe gegen den Körper“ geführt habe, die noch immer die abendländische Zivilisation durchziehe.

„Der Körper ist nicht mehr zurückzuverwandeln in den Leib. Er bleibt die Leiche, auch wenn er noch so ertüchtigt wird.“

Max Horkheimer & Theodor W. Adorno (1991): Dialektik der Aufklärung. Frankfurt am Main, 248.

Die Trennung von Geist und Körper hat es ihrer Auffassung nach ermöglicht, dass die westliche Zivilisation die menschlichen Instinkte und Leidenschaften verdrängen und entstellen konnte. Das umfasste die Abwertung der körperlichen Arbeit, aus der man mittels Herrschaft Kapital schlagen konnte, genauso wie die Erniedrigung des Fleisches als Quelle des Übels im Christentum.

„Der Körper wird als Unterlegenes, Versklavtes noch einmal verhöhnt und gestoßen und zugleich als das Verbotene, Verdinglichte, Entfremdete begehrt. Erst Kultur kennt den Körper als Ding, das man besitzen kann, erst in ihr hat er sich vom Geist, dem Inbegriff der Macht und des Kommandos, als der Gegenstand, das tote Ding, ‚corpus‘, unterschieden.“

Max Horkheimer & Theodor W. Adorno (1991): Dialektik der Aufklärung. Frankfurt am Main, 247.

Der Verlust der Einheit von Leib und Seele, so konstatieren Horkheimer und Adorno, manifestiert sich in Werbung und Reklame für den vitalen, schönen Menschen, in der Medizin und in der Technik, die die Natur objektiviert. Die Spaltung des Lebens in den verdinglichten Körper und in den davon getrennten Geist lässt sich zur Ausübung von Macht zu Nutze machen.

Herrschaft über den Leib – der Nationalsozialismus als Beispiel

Entsprechend instrumentalisierte und missbrauchte der Faschismus den Körper zu Machtzwecken durch Gleichschaltung – daran lag der Hauptpunkt von Horkheimers und Adornos Analyse. In der Tat hat der Nationalismus die Beherrschung des Leibes bis zur Vollkommenheit perfektioniert. Die Nationalsozialisten inszenierten Massenaufmärsche, Feierstunden, Fahnenappelle mit Musik, Sprechchören, Feuer- Licht- und Erdsymbolik. Sie nutzen Grußrituale und gaben ihren Veranstaltungen einen rituell-liturgischen Charakter. Mit diesen Techniken schufen sie sinnlich erfahrbare Gesamterlebnisse, die den Menschen über die unmittelbare leibliche Erfahrung das Gefühl von Bindung und Gemeinschaft gaben. In dieser Sprache von Bildern, Symbolen und mit pseudoreligiösen Ritualen vermittelte der Nationalsozialismus seine Ideologie und mobilisierte die Menschen – ohne rationale und intellektuelle Auseinandersetzung mit den vermittelten Inhalten. Vernunft und Verstand als Grundlage kritischer Reflexion ließen sich bei vielen Menschen durch diese Propagandatechnik außer Kraft setzen und machten sie offen für Manipulation – die Dialektik der Aufklärung.

Wenn Leib und Seele, Geist und Körper in einem so weitreichenden Spannungsverhältnis stehen, dem wir offensichtlich nicht auskommen, stellt sich die Frage, ob wir gedanklich etwas trennen, was eigentlich zusammen gehört. Und offensichtlich hat es Folgen, wenn wir nur das eine oder das andere sehen, aber nicht beides zusammen.   

Der Zorn der Götter – oder: Das menschliche Selbstverständnis in der griechischen Mythologie

Hermann Schmitz (2016) – Foto: Alexander Risse

Der Philosoph und Begründer der Neuen Phänomenologie Hermann Schmitz (1928-2021) verwies darauf, dass es in der griechischen Ilias diese Aufspaltung und Verbannung des persönlichen Erlebens in eine private Innenwelt (einer Seele) noch nicht gab. Die Figuren des Ilias-Epos seien der Besessenheit durch Götter und Affekte ausgesetzt. So legt sich dort der Zorn der Götter über die Menschen und treibt sie in Gefühlswallungen, die sie kaum beherrschen können. Die goldene Aphrodite verkörperte eine Atmosphäre, die einen anrührte und betraf. Die göttlichen Einflüsse kommen leiblich spürbar über den Menschen. In der Ilias sprechen die Helden gleichsam in einer Art Selbstgespräch mit dem Thymos, der noch bei Aristoteles das Vermögen des Zürnens, des Liebens, des Herrschens und des Freiseins ist, als etwas im Menschen, das sich „nicht unterkriegen lässt“ (vgl. Schmitz 1992, 293). Schon in der Odyssee, so Schmitz, ändert sich aber wesentlich etwas im Selbstverständnis des Menschen.

„Die Odyssee ist beinahe wie ein dichterisch ausgeführtes Programm der personalen Selbstermächtigung.“

Hermann Schmitz (1992): Leib und Gefühl. Materialien zu einer philosophischen Therapeutik. 2. Aufl. Paderborn, 296.
Odysseus mit Eurylochos und Perimedes Foto: Jastrow

Odysseus kann von den eigenen leiblichen Regungen Abstand nehmen. Er will sich von seinem Hunger nicht ablenken lassen, sondern lieber trauern über die Entfernung von der Heimat. Er kann sich von außen sehen, seinen Gesichtsausdruck beherrschen und sich nichts anmerken lassen. Er ist nicht mehr, wie noch die Figuren der Ilias den Mächten ausgeliefert. In der Zeit zwischen Homer und Platon, so Schmitz, habe sich „der europäische Mensch in der fruchtbarsten und plastischsten, die Folgezeit beherrschenden Phase seines Selbstverständnisses – in Griechenland zwischen Homer und Platon – eine Innenwelt und eine Seele zugelegt“ (Schmitz 1992, 297).

Platon

Bei Platon (428/427-348/347 v. Chr.) ist der Mensch fähig, denkend zu überlegen: „Platon bezeichnet das Denken nicht einfach als Gespräch der Seele mit sich selbst, sondern als Gespräch der Seele mit sich selbst in sich selbst“ (Schmitz 1992, 294).

Damit war der Mensch in Körper und Seele zerlegt, wobei der Körper als Stoff und Diener, die Seele als dessen formende Kraft und Steuerung fungierte. Gleichzeitig bekam der Mensch mit der Seele ein Haus für sein Erleben und seine Gefühle. Er konnte nun seine Innenwelt beherrschen und kontrollieren. Gleichzeitig – und das ist äußerst folgenreich – kann er sich dadurch nun aber auch der Außenwelt bemächtigen. Denn indem sich der Mensch der Welt beobachtend und untersuchend gegenüberstellte, wurde die Grundlage für naturwissenschaftlich-technisches Denken und Entwicklung geschaffen. Allerdings war das mit hohen Kosten und Einbußen in einer anderen Hinsicht verbunden.

Der Leib hat keine Worte

Die Konsequenz aus dieser Abschließung des Erlebens in die private Innenwelt des Einzelnen und die Abspaltung der Außenwelt ist, dass uns heute viele unmittelbare und unwillkürliche Erfahrungen nicht recht greifbar und fassbar sind. Wir können vieles von dem, was wir erleben, kaum benennen und in Worte fassen, weil wir dazu keine Begrifflichkeiten ausgebildet haben. Wenn man nicht darüber sprechen kann, geht es in gewisser Weise aber auch verloren. Das betrifft die Erfahrung unserer Leiblichkeit, unseres eigenleiblichen Spürens, das damit ins Hintertreffen geraten ist und der objektiven und distanzierten Betrachtung des Körperlichen weichen musste. So schreibt Hermann Schmitz treffend:

„der spürbare Leib – zwischen Körper und Seele wie in eine Gletscherspalte gefallen“

Hermann Schmitz (2010): Kurze Einführung in die Neue Phänomenologie. Freiburg/München, 22.

Deutlich sieht man das an der modernen Medizin, die den Menschen leider oft nur als Körper betrachtet. Wenn der Rücken schmerzt, verschafft die Cortisoninjektion schnelle, aber auch kurzfristig andauernde Erleichterung. Dass die Schmerzen von Verspannungen und Verkürzungen der Muskeln, Bänder und des Bindegewebes herrühren, weil sich der Patient zu wenig bewegt, zu viel sitzt, zu viel Stress hat, fällt nicht in den Aufgabenbereich der orthopädischen Medizin. Dazu müsste man den Menschen in seinem gesamten biographischen und ökologischen Zusammenhang in den Blick nehmen: seine Motivation, sein Selbstverständnis, seinen Beruf, seinen Alltag.

Rückbesinnung auf den Leib und die Leiblichkeit

Erst die phänomenologisch orientierten Philosophie des 20. Jahrhunderts, in die sich auch der Begründer der Neuen Phänomenologie Hermann Schmitz einordnen lässt, hat das leibliche Erleben und die Leiberfahrung dezidiert aufgegriffen. Sie versuchte, die Differenz von Leib und Körper begrifflich präzise zu erfassen und beides aufeinander zu beziehen.   

Helmuth Plessner(1939)

Helmuth Plessner (1892-1985), ein Vertreter der Philosophischen Anthropologie, schlug vor, den Menschen als „personale Lebenseinheit“ zu sehen. Entsprechend verstand er den Menschen als Subjekt und Objekt seines Lebens: Der Mensch kann sich also selbst sowohl Gegenstand als auch Zentrum sein. Für ihn war es der unaufhebbare Doppelaspekt der menschlichen Existenz, dass der Mensch einen Körper habe und sein Leib sei.  

der Mensch als Leib in der Mitte einer Sphäre, die entsprechend seiner empirischen Gestalt ein absolutes Oben, Unten, Vorne, Hinten, Rechts, Links, Früher und Später kennt, eine Ansicht, die als Basis der organologischen Weltanschauung dient und der Mensch als Körperding an einer beliebigen Stelle eines richtungsrelativen Kontinuums möglicher Vorgänge, eine Ansicht, die zur mathematisch-physikalischen Auffassung führt“ (Plessner 1975, 294).

Helmuth Plessner (1975): Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie. Berlin u.a., 294.

Das bedeutet, dass der Mensch sich und die Welt unmittelbar erlebt und erfährt. Er kann sich aber auch der Welt und sich selbst gegenüberstellen. Menschen können sich ihres Erlebens und ihrer Gefühle bewusst werden, genauso wie die sie umgebende Welt für sie zum Gegenstand werden kann.

Maurice Merleau-Ponty – Foto: Wikipedia

Die in den Ansätzen der philosophischen Anthropologie enthaltenen Gedanken sind vor allem im Zusammenhang phänomenologischer Fragestellungen aufgenommen und fortgeführt worden. Hier ist u.a. Maurice Merleau-Ponty (1908-1961) zu nennen. Merleau-Ponty bestimmt den Leib als „natürliches Subjekt“ (Merleau-Ponty 1966, 234). Damit ist er „weder Ding noch Bewußtsein, sondern eine unent­behrliche Vorgabe meiner selbst“ (Waldenfels 1983, 167). Über den Leib sei der Mensch in der Welt verankert; er sei sein Medium zur Welt.

„So bin ich selbst mein Leib, zumindest in dem Maße, in dem ich einen Erwerb mein Eigen nenne, und umgekehrt ist mein Leib wie ein natürliches Subjekt, wie ein vorläufiger Entwurf meines Seins im Ganzen.“

Maurice Merleau-Ponty (1966): Phänomenologie der Wahrnehmung. Berlin, 234.

Alphabet der Leiblichkeit

Hermann Schmitz hat in seinem zwanzigbändigen „System der Philosophie“ (1964-1980) gezeigt, dass es vor jeder Subjekt-Objekt-Trennung schon ein subjektives „Bewußt­haben“ gibt, das im Spüren der eigenen Leiblichkeit gründet. Auf diesem angebo­renen eigenleiblichen Spüren beruht ein leiblicher, vorreflexiver Zugang zur Welt, der schon Säuglingen in bestimmten Momenten möglich sei. Auf dieser Grundlage entwirft Schmitz ein „Alphabet der Leiblichkeit“, mit dem die leiblichen Regungen erfasst und vor allem benannt werden können. Damit wird ein großer Teil unserer Erfahrung, der bisher unaussprechlich und in unser Inneres verbannt war, kommunizierbar und in seiner Bedeutung für das Leben in all seinen Bereichen erkennbar.

Die Leibdimension in der Pädagogik erforschen

Foto: bill wegener

Das kann auch für pädagogische Kontexte weitreichende Folgen haben. Pädagogische Settings wie der Familie, dem Kindergarten, der Schule, aber auch Kurse in der Erwachsenenbildung, lassen sich weitaus umfassender verstehen, wenn man subjektiv-leibliche Dimension dabei mit berücksichtigen und wissenschaftlich beleuchten kann. Nicht alles was Lernen und pädagogisches Handeln beeinflusst, lässt sich sprachlich fassen oder statistisch auswerten.

Spannungsreiche oder entspannte Atmosphären kann man nicht sehen, aber spüren und am eigenen Leib erfahren. Sie entstehen durch Raum- und Zeitstrukturen, im sozialen Miteinander, durch biographische Konstellationen oder materielle Umweltbedingungen. Sie beeinflussen aber wesentlich Lern- und Erziehungssituationen und die Rezeption pädagogischen Handelns mit. Die Herausforderung besteht darin, den richtigen forschungsmethodischen Zugriff zu finden. Eines steht fest: Dieser kann nur im qualitativen Bereich angesiedelt sein.

Literatur:

Waldenfels, Bernhard (1983): Phänomenologie in Frankreich. Frankfurt am Main

Was haben lila Kühe, Social Media und Zoom-Unterricht mit dem Thema Leiblichkeit zu tun?

Was haben lila Kühe, Social Media und Zoom-Unterricht mit dem Thema Leiblichkeit zu tun?

Mein Interesse an der Erforschung der leiblichen Grundlagen des Lernens und Erziehens reicht bis zurück in die 1990er Jahre. In der Grundschulpädagogik wurde damals viel vom „Lernen mit allen Sinnen“ gesprochen. In dieser Zeit entstand auch der Lila-Kuh-Mythos. Bei einem Malwettbewerb in bayerischen Kindergärten malte ein Drittel der Kinder die Kuh lila aus. In den Medien gab es einen Aufschrei, weil man vermutete, das läge am Einfluss der Werbung und dass die Kinder keinen Bezug mehr zur Natur hätten.  Es stellte sich heraus, dass die Kinder sehr wohl wussten, welche Farbe Kühe haben. Sie hatten die Farbe lila einfach gewählt, weil sie ihnen gut gefiel.

Die übergangene Sinnlichkeit

Quelle: Wikimedia, original file: Alex Arkink, CRV- flickr upload: agriflanders

Dennoch beklagte man die „verlorene Sinnlichkeit“ in der Schule: kognitives Lernen und Verwissenschaftlichung würden bereits die Grundschule bestimmen und hätten Schule und Unterricht entsinnlicht. Horst Rumpf verfasste schon 1981 ein Buch mit dem Titel „Die übergangene Sinnlichkeit“. Darin versuchte er an Beispielen zu zeigen, wie der Schulunterricht die Sinne und den Körper einseitig disziplinierte und dem distanzierten, kognitiv-intellektuellen Lernen den Vorrang einräumte. Dadurch, so seine Schlussfolgerung, sei eine Kluft zwischen der Schule und dem Leben entstanden. Es wurden in den 1990er Jahren viele Konzepte und Programme entwickelt, um die vielerorts, nicht nur in der Schule, beklagte Verarmung der sinnlich-leiblichen Erfahrungsräume zu kompensieren. Man wollte die Kinder, aber auch die Erwachsenen, wieder für die Wahrnehmung mit allen Sinnen sensibilisieren. Für die Schule und die pädagogische Praxis forderte man „ganzheitliches“ Lernen mit „Kopf, Herz und Hand“. Mit Wahrnehm-Bars, Fußfühlwegen und Sinneswerkstätten sollte die Wahrnehmungsfähigkeit der Kinder geschult werden. Praktisches und handelndes Lernen in Projekten und Lernwerkstätten sollte wieder mehr Sinnen- und Lebensnähe schaffen.

Barfußpfad im Barfußpark Nienhagen (Deutschland).
Quelle: Lorenz Kerscher – eigenes Werk, German Wikipedia with permission of the author (upload in de by de:Benutzer:AndreasS)

Zumindest für die Grundschule lässt sich sagen, dass in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg bis in die 1960er Jahre die Tendenz vorherrschte, den leiblichen Voraussetzungen der Kinder, ihrem Bedürfnis nach Anschauung, Gefühlen und der emotionalen Gebundenheit an Familie und die nahe Umwelt Rechnung zu tragen. Erst der Sputnik-Schock, als 1957 die Sowjetunion vor den Amerikanern den ersten Satelliten ins All schoss, setzte eine Entwicklung in Gang, die auch in Deutschland zu einer umfassenden Bildungsreform führte:

  • Die Mengenlehre erreichte die Grundschulmathematik,
  • in den Sachunterricht zogen naturwissenschaftliche Themen und Konzepte ein,
  • die Orientierung an Fächern löste den Gesamt- und Heimatkundeunterricht ab und
  • der programmierte Unterricht wurde modern.

Diese intellektuell-kognitive Wende überforderte die Kinder in mancher Hinsicht, so dass die Lehrpläne in den 1980er Jahren einen Schritt in Richtung der kindlichen Bedürfnisse machten und die Lernvoraussetzungen der Kinder wieder stärker berücksichtigten.

Lernen mit allen Sinnen

Insofern reagierte die Diagnose der „übergangenen Sinnlichkeit“ und die Forderung nach „ganzheitlichem Lernen“ auf ein Defizit. Gleichwohl bedienten die „Wir lernen mit allen Sinnen“-Konzepte und die „Wir umarmen einen Baum“-Pädagogik doch nur wieder eine Einseitigkeit. Das zugrundeliegende Problem wurde auch mit Forderung nach „ästhetisch-sinnlichem Lernen“ eigentlich nicht thematisiert. Die Rede vom „ganzheitlichen“ Lernen blieb unscharf. Es wurde nicht so recht klar ist, welche „Ganzheit“ damit eigentlich gemeint ist.

Diese Rückbesinnung auf die Sinne und die Körperlichkeit wurde zu einer Schul- und Kulturkritik, die im Grunde genommen den alten und traditionellen Diskurs über den Dualismus von Körper und Geist bzw. von Leib und Seele aufnahm, der bis in die griechische Antike zurückreicht. Der Boden wurden bereits in den in den 1970er Jahren bereitet, schwerpunktmäßig in der Soziologie u.a. mit Arbeiten von Pierre Bourdieu zum Konzept des Habitus und von Michel Foucault zur Disziplinierung des Körpers. Die Diskussion drehte sich um die „Wiederkehr des Körpers“. So lautete der Titel des Tagungsbandes, den Dietmar Kamper und Christoph Wulf 1982 herausgaben. Zwei Jahre später folgte von den Autoren ein Buch mit dem Titel das „Schwinden der Sinne“. Nicht nur in den pädagogischen Beiträgen zur Debatte wurde die Situation der Gegenwart vielfach negativ interpretiert. Man beklagte aus einer kulturkritischen Perspektive, dass es zu einer Überbewertung von Rationalität und infolgedessen zu einer Entzauberung und Entfremdung des Lebens gekommen sei. Gottfried Bräuer brachte das folgendermaßen auf den Punkt:

„Die Trennung von res extensa und res cogitans bei Descartes zieht für Jahrhunderte eine immer schärfere Absetzung von Innen und Außen nach sich, von Lebensbedeutung und bloßer Mechanik in der Physiologie und Psychologie, und dieses Schisma wiederum führt zur Überbewertung der logozentrischen Wissenskultur, entzaubert den Leib und entfremdet ihn zum zweckrationalen Instrument; diese Entzauberung wiederum drängt die Sinnlichkeit und die Affekte als Reste bloßer animalischer Natur ins Unterirdische, Unsägliche und Private hinab; der Ausbau der externen Gedächtnisse in Schriftkultur und Datenspeicherung entmächtigt und ersetzt das Körpergedächtnis und die körperliche Sensitivität. Auch unter profanen Vorzeichen bleibt das Körperliche letztlich moralisch irgendwie verdächtig und ungebärdig. Solche Beschreibungen der Dissoziation von Körper und Geist sind nicht neu und den Kennern der Anthropologie natürlich aus den Analysen von Nietzsche, Scheler, Plessner, Gehlen, Sartre, Buytendijk, Merleau-Ponty, Bollnow, Claessens, Foucault, Kluge/Negt u.a. bekannt. Aber die Schärfe hat zugenommen. Man spricht heute vom Schweigen, Verstummen oder Verschwinden des Körpers (…)“ (Bräuer 1998, 38).

Ästhetisierung der Lebenswelt

Neben Kulturkritik und Verlustdiagnosen stellte man damals aber auch die zunehmende Ästhetisierung der Lebenswelt fest. Man beobachtete, dass in der Werbung, den Medien und der Politik, in Mode und Freizeitaktivitäten eine ästhetisch durchgeformte Wirklichkeit entstand, in der vieles „zugleich entfremdet und aufgeschönt“ (Selle 1990, 15) sei. In steigendem Maße würden Moden unsere Kleidung, Wohnen, Konsum, Sprache und sogar Denkinhalte bestimmen. Eine wesentliche Rolle attestierte man den Medien, die uns dazu Leitbilder und Orientierungsmuster, visualisiert als Stars, favorisierte Typen und Lebensstile vermittelten (Kupffer 1990). Heute – 30 Jahre später – leben wir im Social Media-Zeitalter, in dem man mit Tweets Politik machen oder die Börsenkurse crashen lassen kann. „Influencer“, Selbstinszenierungen in TikTok und YouTube, Posts und Fotos in Facebook publizieren – das alles gehört heute zu unserer Realität. So stimmt heute umso mehr, was Kupffer damals schrieb: Bilder würden zu Worten, wenn sie, wie in der Werbung, den Adressaten direkt „ansprechen“. Sie wirken als Parole, Aufforderung oder Appell:

„Das Bild ist die praktisch erlebte Wirklichkeit“ (Kupfer 1990, 61).

Körperorientierung und Körpererleben

Gleichzeitig entwickelte sich damals auch ein neues Verständnis des Körperlichen, insbesondere bei der Jugend. Preuss-Lausitz konstatierte: Der Körper sei zum Gegenstand des Marktes geworden, er werde in Fitnessstudios trainiert; die rhythmische Bewegung in Diskotheken wie auch gesunde Ernährung würden zu luststeigerndem Körpererleben. „Der trainierte, gebräunte, zugleich offene und empfindungsfähige Körper wird zum Leitbild beider Geschlechter“ (Preuss-Lausitz 1993, 177). Er attestierte der modernen Kultur „Körpernähe“. Damit einher würde ein umfassender Individualisierungsprozess gehen. Da andere Sinnstiftungen wegfielen, würden sich die Menschen auf das eigene Selbst konzentrieren. Der eigene Körper gewänne zunehmende Bedeutung als letzte Gewissheit. Hinsichtlich des Gesellschafts- und Politikverständnisses junger Menschen stellte er fest, dass diese immer weniger von Utopien oder von Theorien, als vielmehr von konkret erfahrenen Körperbezügen bestimmt wären: Gesundheitswelle, Ökologiebewegung, Frauenbewegung, Einstellungen zu Verkehr, Wohnen und Arbeit.

„Einerseits nehmen Surrogatformen des Erlebens zu oder werden zu dessen authentischen Formen. Andererseits wächst der Hunger nach Unmittelbarkeit, Bei-sich-Sein, nach greifbarer Wirklichkeit und Begreifbarkeit des Lebens. In immer breiterer Streuung ist das Ästhetische zum Lebensmittel geworden“ (Selle 1990, 34).

Auch hier kann man nach 30 Jahren sehen, dass diese Entwicklung weitergegangen ist und sich sogar verstärkt hat. Piercing, Tattoos, Fitness, Wellness, gesunde Ernährung, der Trend zur „casual“ Kleidung auch im Arbeitskontext, Massenevents in Sport und Kultur – all das gehört heute für viele Menschen zum Alltag. TV-Sendungen wie Germany’s Next Top Model und Deutschland sucht den Superstar etc. erfreuen sich nicht nur bei Jugend großer Beliebtheit. Daneben stehen Trends zu mehr Achtsamkeit, Yoga und Meditation und Selbstfindung, Naturschutz und Tierwohl – also das Bedürfnis nach dem unmittelbar Erlebbarem, nach der Natur und nach Sinn. Daneben sind wir mit Bildern, die ästhetisch manipuliert sind und unsere Wahrnehmung dominieren, konfrontiert. Wird uns das bewusst? Reflektieren wir dies und können uns dazu positionieren? Oder werden wir in diesen Lifestyle durch Werbung, Social Media hineingezogen und können uns gar nicht dagegen wehren?

Digitalisierung des Lebens

Mit der Digitalisierung unserer Lebenswelt stellt sich die Frage nach der Körperorientierung und Ästhetisierung der Lebenswelt in neuer Form. Das eigene Leben wird auf Facebook oder Instagram so präsentiert, wie man sich gern sehen möchte. Partnersuche online erfolgt primär durch die Auswahl nach Fotos; also wird es wichtig, sich selbst in Bestform darzustellen. Beim Zoom-Meeting schaut man sich permanent in das eigene Gesicht, als wäre man sein eigener Zuschauer. Gleichzeitig fehlt dabei der unmittelbare, direkte Kontakt, das eigenleibliche Spüren der Situation im Zusammensein mit den anderen, der Smalltalk, das Informell-Beiläufige, indirekte Blicke, das Erfassen der Atmosphäre und von Spannungen, die im Raum liegen. Es fehlen aber Perspektive durch die Sitzordnung, das Spüren der Raumtemperatur, die Gerüche, das Wahrnehmen der Lichtverhältnisse. All das sind Aspekte, in die die Menschen, die bei einem Meeting zusammensitzen, eingetaucht sind und die zu einer Gesamtsituatione verschmelzen. Bei einem Zoom-Meeting individualisieren sich die Erfahrungen, vieles kann nicht geteilt werden und wird ausgeblendet. Es lenkt weniger ab und man hat den Eindruck, die Zeit wird intensiver und effektiver genutzt, weil man besser auf das Thema und Wesentliches fokussieren kann.

Bild von Gerd Altmann auf Pixabay

Auch in der digitalen Welt scheinen wir zwischen den von Selle so genannten „Surrogatformen des Erlebens“, aber auch dem „Hunger nach Unmittelbarkeit“ und „Begreifbarkeit des Lebens“ zu pendeln. Wir haben das Bedürfnis nach dem ästhetisch und sinnlich Erfahrbaren. Wir leben intensiv mit Bildern, die auch eine Direktheit schaffen, weil sie immer präsent und zugänglich sind. Unsere Kommunikation per E-Mail und Instant Messages braucht keine Stimme, aber wenn wir miteinander sprechen wollen, verwenden wir doch Facetime oder Skype, weil man sich dabei sehen kann. Und dennoch fehlt da immer noch etwas, dass sich nur in der direkten Begegnung erfahren lässt.

Online-Lernen und Leiberfahrung

Im Kontext von Schule und Unterricht stellt sich die Frage nach dem Verbleib des Körpers in Corona-Zeiten und durch die Digitalisierung wieder neu. Wie verhält sich das Lernen mit digitalen Medien, das durch die Corona-Pandemie einen entscheidenden Entwicklungsschub bekam, zu unserer leiblichen Erfahrung und Wahrnehmung? Wie verändert sich das Lernen und Unterrichten, wenn es online stattfindet?  Was bedeutet das für die Lernmotivation und Lernfreude oder die Entwicklung sozialer Kompetenzen bei Schüler:innen, wenn Gruppenarbeit nur online stattfindet? Wie verändern sich Lernen und Unterrichten, wenn man „leiblich“ nicht anwesend ist?

Bild von April Bryant auf Pixabay

Wir haben gesehen, dass die Forderung nach einem ganzheitlichen „Lernen mit allen Sinnen“, wie sie in den 1990er Jahren gestellt wurde, die Problematik nicht erfasst. Die Erfahrungen mit der Digitalisierung in Schule, Alltag und Beruf zeigen, dass es vielmehr um die grundlegende Frage nach den Bedingungen des Lernens geht. Es ist die Frage nach dem leiblichen Fundament von Lernen und Erziehung und unserer eigenleiblichen Erfahrung. Wenn Lernen, Erziehung und Unterricht nur in den Köpfen, also kognitiv stattfinden würde, hätte es die Pädagogik um einiges leichter. Die Erziehung hat es mit einer Gemengelage situativ relevanter Aspekte – einem „entanglement“ von leiblichen und biographischen Voraussetzungen, kulturellen Bedeutungen, Zeit- und Raumaspekten sowie Auswirkungen organisatorisch-institutioneller Bedingungen zu tun.

Leibgebundenheit des Lernens

Dieses „entanglement“ von interdependenten Bedingungen lässt sich forschungstechnisch nur unzureichend einholen. Das gilt gerade auch für die leibliche Dimension des Lernens und der Erziehung. Kinder benutzen vom ersten Moment an ihren Leib als Werkzeug des Lernens. Die kognitive Entwicklung basiert auf der Leiberfahrung, insbesondere auf der Wahrnehmungsfähigkeit, da wir nur etwas begreifen können, das für unsere Sinne zugänglich ist. So brauchen wir, um Begrifflich-Abstraktes zu verstehen Beispiele, die uns eine anschauliche Vorstellung davon ermöglichen.

Kindliches Lernen erfolgt vor allem mit den Mitteln des Leibes – im direkten Kontakt mit den Bestandteilen der konkreten Lebensumwelt der Kinder, die wahrgenommen, berührt, gefühlt und exploriert werden können. Das Kind übt seine kognitiven Kompetenzen und entwickelt sie im konkreten leiblichen Tun und in der direkten leiblich-ästhetischen Interaktion mit seiner Umwelt weiter. Gerade Kinder im Grundschulalter sind beim Lernen noch stark an ihre leiblichen Voraussetzungen gebunden. Sie brauchen die konkrete Anschauung, das Ertasten, Greifen und Spüren zum Begreifen. Dabei sind sie noch viel stärker als Erwachsene ihren Gefühlen, ihrem eigenleiblichen Spüren und den Atmosphären ausgeliefert.

Doch wie kann man diese leibliche Erfahrung in Begriffe fassen, beschreiben, analysieren? Das wäre wichtig, um den Einseitigkeiten des rein kognitiv interpretierten Lernens und der Banalität von Formulierungen wie „Lernen mit Kopf, Herz und Hand“ zu entkommen. Wie kann man verstehen und theoretisch fassen, dass man nicht nur kognitiv lernt und dass sich Erziehung nicht nur an den „Geist“ richtet, sondern dass dabei auch unsere leibliche Befindlichkeit, unser Fühlen und Spüren eine Rolle spielt? Für jeden in der pädagogischen Praxis Tätigen ist dieser Zusammenhang klar, aber die erziehungswissenschaftlich-theoretische Beschäftigung damit ist eher marginal. Im Kontext der Digitalisierung von Schule, Unterricht, Lernen – ja unseres gesamten Lebens – stellt sich die Frage neu. Worin besteht dieser leiblich bedingte Urgrund von Lernen und Erziehung und wie kann man ihn theoretisch erfassen?

Dazu demnächst mehr in paedologic.

Literatur:

Bräuer, G. (1998): Grundschuldidaktik im Übergang – Probleme und Perspektiven. In: Schneider, G. (Hg.): Ästhetische Erziehung in de Grundschule. Argumente für ein fächerübergreifendes Unterrichtsprinzip. Weinheim, 31-47

Kupfer, H. (1990): Pädagogik der Postmoderne. Weinheim und Basel

Preuss-Lausitz, U. (1993): Die Kinder des Jahrhunderts. Zur Pädagogik der Vielfalt im Jahr 2000. Weinheim und Basel

Selle, G. (1990): Einführung. Das Ästhetische: Sinntäuschung oder Lebensmittel? In ders. (Hg.): Experiment ästhetische Bildung. Reinbek, 14-37

Über das Konzept von paedologic

paedologic richtet sich an erziehungswissenschaftlich interessierte Leser:innen, die Freude daran haben, sich mit Themen, Gedanken, Überlegungen oder Thesen im Kontext von Bildung, Erziehung, Lernen und pädagogischen Institutionen zu befassen. Das inhaltliche Spektrum reicht von aktuellen Entwicklungen, über theoretische Konzepte bis zur Erinnerung an pädagogische Klassiker. Die Blogbeiträge sind keine systematischen wissenschaftlichen Erörterungen, sondern möchten in einer gut lesbaren Form zur Diskussion und zum Nachdenken anregen. Kommentare sind ausdrücklich erwünscht.

paedologic möchte einen Beitrag zur Selbstvergewisserung und Reflexion der Erziehungswissenschaft leisten. Im öffentlichen Bild und auch in der Wissenschaftslandschaft scheint die Erziehungswissenschaft durch die empirische Wende längst in sozialwissenschaftlich orientierte Bildungswissenschaften erodiert zu sein. Mit dieser Entwicklung lässt sich die Frage stellen, ob genau das nicht auch für den Kern von Erziehung gilt. Auch das seit jeher diskutierte Problem der Differenz von pädagogischer Theorie und pädagogischer Praxis gehört in diesen Zusammenhang. Wenn Bildung wie in den internationalen Schulleistungsstudien als verwertbare Kompetenz betrachtet und die Anpassung von Bildungszielen an bildungspolitische und ökonomische Erfordernisse gefordert wird, hat dies umfassende Konsequenzen für die Erziehungswissenschaft als Disziplin.

Es ist inzwischen erkennbar, dass die systematische erziehungstheoretische Reflexion über das, was Erziehung und Bildung eigentlich sind, d.h. die theoretische Erkenntnis pädagogischer Phänomene und pädagogischen Handelns, die einst zum Kern der Erziehungswissenschaft gehörten, nur noch eine marginale Rolle spielen. Auch an den Universitäten werden die Lehrstühle und Professuren für Allgemeine Erziehungswissenschaft durch prestigeträchtigere und aktuellere Denominationen, vor allem in Richtung empirischer Forschung, ersetzt.

Für die Erziehungswissenschaft ist zum Problem geworden, dass sie hinsichtlich ihres Selbstverständnisses kaum die Frage nach ihren einheimischen Begriffen gestellt hat, die schon Johann Friedrich Herbart angemahnt hatte. Die Reflexion über den „Kern der Erziehung“ zu vernachlässigen, hat inzwischen dazu geführt, dass die Psychologie oder Neurowissenschaften das Sagen haben, wenn es um Lernen oder Didaktik geht. Der Bildungsbegriff ist heute so konturenlos und anpassungsfähig, dass sogar die Wirtschaftswissenschaften Bildungsforschung betreiben können. Da man nicht richtig weiß, wofür Pädagog:innen eigentlich Expert:innen sind, bleibt ihre Aufgabe unscharf und kann von anderen Berufsgruppen substituiert werden. Sie betreuen, fördern, unterrichten, beraten, aber was daran ist eigentlich der pädagogische Kern?

Hinzu kommt die Schwierigkeit, dass es empirische pädagogische Forschung mit komplexen Situationen zu tun hat. Diese Komplexität, in die pädagogische Interaktionen eingebunden sind, umfasst nicht nur die beteiligten Personen, mit ihren biographischen, sozialen und leiblichen Voraussetzungen, sondern auch situative Momente und vielfältige Aspekte der materiellen Umwelt. In diese Gemengelage, sozusagen das „entanglement“ von individuellen Bedingungen, sozialen Prozessen und materiellen Bedingungen, ist die leibliche und kulturelle Dimension des pädagogischen Geschehens eingeschlossen. Mit der Reduktion auf wenige relevante Variablen, wie sie empirische Forschungen vornehmen müssen, lässt sich eine solche Komplexität niemals einholen. Dabei fällt immer etwas unter den Tisch – in der Regel ist es das, was einfach nicht gut messbar ist.

Die Beiträge im paedologic Blog sollen darauf aufmerksam machen, dass es die Aufgabe der Erziehungswissenschaft ist, den Blick weit zu halten, auf das, was Erziehung eigentlich ausmacht. Es geht darum, sich der pädagogischen Kernbegriffe zu vergewissern und die Wirklichkeit von Erziehung mit Hilfe theoretischer Konzepte und Ansätze zu verstehen. Der paedologic Blog möchte deutlich machen, dass systematische erziehungswissenschaftliche Reflexion weder durch bildungswissenschaftliche Forschung in Psychologie, Sozial- und Wirtschaftswissenschaften, noch durch pädagogische Praxeologie ersetzt werden kann.