„Leib sein“ und „Körper“ haben – Gibt es einen Unterschied zwischen Leib und Körper?

Eine Redensart zu Beginn – oder: Erst kommt der Leib und dann das Lernen

„Plenus venter non studet libenter“

… oder auf deutsch: „Ein voller Bauch studiert nicht gern.“

Diese Redensart ist weithin bekannt und man weiß aus eigener Erfahrung, was damit gemeint ist. Nach dem Essen, insbesondere einem opulenten Mahl, wird der Mensch träge. Satt macht müde. Aber umgekehrt hält einen der Hunger auch wach.

Müdigkeit

Wir kennen die (neuro)physiologischen Zusammenhänge. Nahrungsmangel, also Hunger, lässt den Blutzuckerspiegel sinken. Der Sympathikus wird aktiviert, wobei die Insulinsekretion gehemmt wird. Das signalisiert dem Gehirn (u.a. dem Hypothalamus), nach Essen zu suchen. Die Wahrnehmung wird sensitiver, der Körper gerät in Stress und wird reaktionsbereiter (Quarks 2020). Psychisch geht dies einher mit erhöhter Wachsamkeit und größerer Aggression. Umgekehrt läuft auch bei Sättigung ein Programm ab: Nach der Mahlzeit steigt der Insulinspiegel, der Parasympathikus wird aktiviert, die Magen-Darm-Sekretion steigt, die Muskelaktivität sinkt. Das geschieht alles, damit die Inhaltsstoffe dem Körper zugänglich und verfügbar gemacht werden können. Das Sättigungsgefühl geht einher mit Müdigkeit und Schlafbereitschaft (DAZ 6/2014).

Es gibt auch eine evolutionär fundierte Erklärung. So ist unser Gehirn heute noch gemäß der Bedürfnisse des Homo sapiens programmiert. Für diesen war der Hunger die Motivation zur Nahrungsbeschaffung und erforderte Wachheit bei Tageslicht. Dagegen erholte er sich bei Dunkelheit und das funktionierte am besten gut gesättigt.

Zuviel essen, zu wenig essen und überhaupt essen – all das spielt natürlich für das Lernen eine Rolle. Auch die geistige Arbeit verbraucht Energie und ist auf Kalorienzufuhr angewiesen, also auf richtige Nahrung und nicht nur geistige. In der Schule gibt es deshalb Pausen, die nicht nur zum Entspannen und Bewegen, sondern auch zum Essen da sind. Doch nicht nur der Energiebedarf des Körpers wirkt sich auf die Lernbereitschaft und Konzentrationsfähigkeit aus. Die Chronobiologie hat endogene Körperrhythmen untersucht, wie z.B. die Abfolge von Schlafen und Wachsein, die eine Zykluslänge von 24 Stunden hat. Diese wird durch den Wechsel von Tageslicht und Nacht synchronisiert und ist mit der Körpertemperatur verknüpft. Dieser Rhythmus scheint auch ohne den externen Zeitgeber von Tag und Nacht zu bestehen.

Zeitzonen

Wir müssen also nicht nur essen, sondern auch schlafen, denn Störungen in unserem Schlafwachrhythmus durch Flüge in andere Zeitzonen oder durch Schichtarbeit können zu Schlafstörungen und gesundheitlichen Problemen führen. Festgestellt wurde auch, dass die frühen Nachmittagsstunden eine höhere Neigung zum Einschlafen mit sich bringen (vgl. dazu Spektrum.de: Lexikon der Psychologie).

Leib und Körper – bedeutungsgleich oder verschieden?

Das Beschriebene hat mit Sicherheit jede:r schon einmal am eigenen Leib erfahren. Oder soll man sagen: am eigenen Körper? Nun, es ist unüblich zu sagen: „Ich habe etwas am eigenen Körper erfahren“. Wenn es aber darum geht, physiologische und neurologische Abläufe zu beschreiben, wird der Begriff des „Körpers“ verwendet.

Der Leibbegriff hat eher einen etwas altertümlichen Beigeschmack. Ebenso sind Begriffe wie Leibspeise, Unterleib, Beleibtheit, Leibarzt oder Leibschmerzen für uns heute nicht mehr sehr geläufig und verschwinden aus unserer Alltagssprache. „Leib“ begegnet uns in der christlichen Theologie in der Einheit von Leib und Seele der Person, der Auferstehung des Leibes Christi und im Sakrament der Eucharistie (Abendmahl).

Piercing Tattoo
Foto: Leandro Lima

Lange Zeit schien es, als würde der Begriff Leib mit „Körper“ ersetzt werden. Ende des 20. Jahrhunderts kam es zu einer Zunahme der Beschäftigung mit dem Thema Körper in den Geistes- und Kulturwissenschaften. Es wurde sogar von einem „body turn“, „somatic turn“ oder „corporeal turn“ gesprochen. Dieses neue Interesse am Körper zeigte sich nicht nur in wissenschaftlichen „Body Studies“, sondern wurde zu einem gesellschaftlichen Phänomen. Es fand seinen Ausdruck im Bedürfnis, den Körper jung und gesund zu erhalten, aber auch in neuen individuellen Körpermodifikationen wie Tätowierungen oder Piercings, die zunehmend in Mode kamen.

Leib und Körper – bezeichnen die Begriffe nun etwas Verschiedenes oder sind sie bedeutungsgleich? Interessanterweise gibt es den Begriff des Leibes nur in der deutschen Sprache. Im Englischen („body“) gibt es genauso wie im Französischen („corps“) die Differenzierung zwischen Leib und Körper nicht. Der Blick auf die begriffsgeschichtliche, etymologische Entwicklung zeigt, dass die Wurzeln von „Leib“ im althochdeutschen Wort lîb (mhd. lîp) liegen. Es hat die Bedeutung von „Leben“, aber auch von „Leib“, „Körper“ und „Gestalt“. „lîp“ wurde demnach mit Leben und Person assoziiert und in der christlichen Tradition für den beseelten menschlichen Leib gebraucht. Das lateinische Lehnwort „corpus“ bezeichnete hingegen den unbeseelten Körper von Tieren oder Menschen oder räumliche Körper im mathematischen Sinn.

Diese traditionelle, also nur im Deutschen übliche Unterscheidung von „Leib“ und „Körper“ hat demnach eine semantische Bedeutung. Mit den beiden Begriffen werden zwei unterschiedliche Beziehungen ausgedrückt. So verweist der Leib als Sitz der Seele auf das Innere des Menschen, auf sein Erleben und Fühlen. Ein Körper (das kann auch der eigene sein) ist hingegen etwas, das man von außen und aus der Distanz als Objekt betrachtet und dem man sich gegenüberstellen kann.

Der Leib-Seele-Dualismus

Das legt nahe, davon auszugehen, zwischen der Seele als „Innenwelt“ und dem Körper als „Außenwelt“ zu unterscheiden. Das Innere, die Seele, erscheint als etwas Separates, vom Körper Abgelöstes und Eigenständiges. Sie ist da, aber dennoch nicht so recht zu fassen. Es lässt sich dann so denken, dass die Seele das Äußere – den wahrnehmbaren Körper – als Instrument für ihre Zwecke nutzt.

Foto: mikoto.raw

Ein solcher Dualismus von Geist/Seele und Körper beherrscht maßgeblich das abendländische Denken und prägt viele unserer Vorstellungen noch heute. Der Leib-Seele- oder Geist-Körper-Dualismus ist ein klassisches Problem der philosophischen Reflexion. Schon die antiken Philosophen, wie z.B. Platon griffen die Frage auf, welche Beziehung zwischen der Seele und dem Leib besteht. Sie diskutierten darüber, ob es sich beim Mentalen (Geist, Seele, Bewusstsein) und beim Physischen (Körper, Leib, Gehirn) um verschiedene Substanzen handelt, ob sie vielleicht eins sind oder getrennt voneinander existieren können.

Descartes
René Descartes – Foto: Wikipedia

Mit René Descartes (1596-1650) hat sich die dualistische Auffassung im westlichen Denken durchgesetzt. Er ging davon aus, dass Bewusstsein (res cogitans) und Materie (res extensa) getrennte Substanzen sind, die aber miteinander interagieren. Diese Trennung prägte die westliche Geistes- und Kulturgeschichte maßgeblich. Das brachte Max Horkheimer und Theodor Adorno dazu, im Dualismus von Körper und Geist bzw. Leib und Seele die „unterirdische Geschichte Europas“ zu sehen. In den Fragmenten am Ende ihres Buches „Dialektik der Aufklärung“ (1971) konstatieren sie, dass der Dualismus von Geist und Körper in der historischen Entwicklung zu einer „Haßliebe gegen den Körper“ geführt habe, die noch immer die abendländische Zivilisation durchziehe.

„Der Körper ist nicht mehr zurückzuverwandeln in den Leib. Er bleibt die Leiche, auch wenn er noch so ertüchtigt wird.“

Max Horkheimer & Theodor W. Adorno (1991): Dialektik der Aufklärung. Frankfurt am Main, 248.

Die Trennung von Geist und Körper hat es ihrer Auffassung nach ermöglicht, dass die westliche Zivilisation die menschlichen Instinkte und Leidenschaften verdrängen und entstellen konnte. Das umfasste die Abwertung der körperlichen Arbeit, aus der man mittels Herrschaft Kapital schlagen konnte, genauso wie die Erniedrigung des Fleisches als Quelle des Übels im Christentum.

„Der Körper wird als Unterlegenes, Versklavtes noch einmal verhöhnt und gestoßen und zugleich als das Verbotene, Verdinglichte, Entfremdete begehrt. Erst Kultur kennt den Körper als Ding, das man besitzen kann, erst in ihr hat er sich vom Geist, dem Inbegriff der Macht und des Kommandos, als der Gegenstand, das tote Ding, ‚corpus‘, unterschieden.“

Max Horkheimer & Theodor W. Adorno (1991): Dialektik der Aufklärung. Frankfurt am Main, 247.
Dialektik der Aufklärung

Der Verlust der Einheit von Leib und Seele, so konstatieren Horkheimer und Adorno, manifestiert sich in Werbung und Reklame für den vitalen, schönen Menschen, in der Medizin und in der Technik, die die Natur objektiviert. Die Spaltung des Lebens in den verdinglichten Körper und in den davon getrennten Geist lässt sich zur Ausübung von Macht zu Nutze machen.

Herrschaft über den Leib – der Nationalsozialismus als Beispiel

Entsprechend instrumentalisierte und missbrauchte der Faschismus den Körper zu Machtzwecken durch Gleichschaltung – daran lag der Hauptpunkt von Horkheimers und Adornos Analyse. In der Tat hat der Nationalismus die Beherrschung des Leibes bis zur Vollkommenheit perfektioniert. Die Nationalsozialisten inszenierten Massenaufmärsche, Feierstunden, Fahnenappelle mit Musik, Sprechchören, Feuer- Licht- und Erdsymbolik. Sie nutzen Grußrituale und gaben ihren Veranstaltungen einen rituell-liturgischen Charakter. Mit diesen Techniken schufen sie sinnlich erfahrbare Gesamterlebnisse, die den Menschen über die unmittelbare leibliche Erfahrung das Gefühl von Bindung und Gemeinschaft gaben. In dieser Sprache von Bildern, Symbolen und mit pseudoreligiösen Ritualen vermittelte der Nationalsozialismus seine Ideologie und mobilisierte die Menschen – ohne rationale und intellektuelle Auseinandersetzung mit den vermittelten Inhalten. Vernunft und Verstand als Grundlage kritischer Reflexion ließen sich bei vielen Menschen durch diese Propagandatechnik außer Kraft setzen und machten sie offen für Manipulation – die Dialektik der Aufklärung.

Wenn Leib und Seele, Geist und Körper in einem so weitreichenden Spannungsverhältnis stehen, dem wir offensichtlich nicht auskommen, stellt sich die Frage, ob wir gedanklich etwas trennen, was eigentlich zusammen gehört. Und offensichtlich hat es Folgen, wenn wir nur das eine oder das andere sehen, aber nicht beides zusammen.   

Der Zorn der Götter – oder: Das menschliche Selbstverständnis in der griechischen Mythologie

Hermann Schmitz 2016
Hermann Schmitz (2016) – Foto: Alexander Risse

Der Philosoph und Begründer der Neuen Phänomenologie Hermann Schmitz (1928-2021) verwies darauf, dass es in der griechischen Ilias diese Aufspaltung und Verbannung des persönlichen Erlebens in eine private Innenwelt (einer Seele) noch nicht gab. Die Figuren des Ilias-Epos seien der Besessenheit durch Götter und Affekte ausgesetzt. So legt sich dort der Zorn der Götter über die Menschen und treibt sie in Gefühlswallungen, die sie kaum beherrschen können. Die goldene Aphrodite verkörperte eine Atmosphäre, die einen anrührte und betraf. Die göttlichen Einflüsse kommen leiblich spürbar über den Menschen. In der Ilias sprechen die Helden gleichsam in einer Art Selbstgespräch mit dem Thymos, der noch bei Aristoteles das Vermögen des Zürnens, des Liebens, des Herrschens und des Freiseins ist, als etwas im Menschen, das sich „nicht unterkriegen lässt“ (vgl. Schmitz 1992, 293). Schon in der Odyssee, so Schmitz, ändert sich aber wesentlich etwas im Selbstverständnis des Menschen.

„Die Odyssee ist beinahe wie ein dichterisch ausgeführtes Programm der personalen Selbstermächtigung.“

Hermann Schmitz (1992): Leib und Gefühl. Materialien zu einer philosophischen Therapeutik. 2. Aufl. Paderborn, 296.
Odysseus
Odysseus mit Eurylochos und Perimedes Foto: Jastrow

Odysseus kann von den eigenen leiblichen Regungen Abstand nehmen. Er will sich von seinem Hunger nicht ablenken lassen, sondern lieber trauern über die Entfernung von der Heimat. Er kann sich von außen sehen, seinen Gesichtsausdruck beherrschen und sich nichts anmerken lassen. Er ist nicht mehr, wie noch die Figuren der Ilias den Mächten ausgeliefert. In der Zeit zwischen Homer und Platon, so Schmitz, habe sich „der europäische Mensch in der fruchtbarsten und plastischsten, die Folgezeit beherrschenden Phase seines Selbstverständnisses – in Griechenland zwischen Homer und Platon – eine Innenwelt und eine Seele zugelegt“ (Schmitz 1992, 297).

Platon

Bei Platon (428/427-348/347 v. Chr.) ist der Mensch fähig, denkend zu überlegen: „Platon bezeichnet das Denken nicht einfach als Gespräch der Seele mit sich selbst, sondern als Gespräch der Seele mit sich selbst in sich selbst“ (Schmitz 1992, 294).

Damit war der Mensch in Körper und Seele zerlegt, wobei der Körper als Stoff und Diener, die Seele als dessen formende Kraft und Steuerung fungierte. Gleichzeitig bekam der Mensch mit der Seele ein Haus für sein Erleben und seine Gefühle. Er konnte nun seine Innenwelt beherrschen und kontrollieren. Gleichzeitig – und das ist äußerst folgenreich – kann er sich dadurch nun aber auch der Außenwelt bemächtigen. Denn indem sich der Mensch der Welt beobachtend und untersuchend gegenüberstellte, wurde die Grundlage für naturwissenschaftlich-technisches Denken und Entwicklung geschaffen. Allerdings war das mit hohen Kosten und Einbußen in einer anderen Hinsicht verbunden.

Der Leib hat keine Worte

Die Konsequenz aus dieser Abschließung des Erlebens in die private Innenwelt des Einzelnen und die Abspaltung der Außenwelt ist, dass uns heute viele unmittelbare und unwillkürliche Erfahrungen nicht recht greifbar und fassbar sind. Wir können vieles von dem, was wir erleben, kaum benennen und in Worte fassen, weil wir dazu keine Begrifflichkeiten ausgebildet haben. Wenn man nicht darüber sprechen kann, geht es in gewisser Weise aber auch verloren. Das betrifft die Erfahrung unserer Leiblichkeit, unseres eigenleiblichen Spürens, das damit ins Hintertreffen geraten ist und der objektiven und distanzierten Betrachtung des Körperlichen weichen musste. So schreibt Hermann Schmitz treffend:

„der spürbare Leib – zwischen Körper und Seele wie in eine Gletscherspalte gefallen“

Hermann Schmitz (2010): Kurze Einführung in die Neue Phänomenologie. Freiburg/München, 22.

Deutlich sieht man das an der modernen Medizin, die den Menschen leider oft nur als Körper betrachtet. Wenn der Rücken schmerzt, verschafft die Cortisoninjektion schnelle, aber auch kurzfristig andauernde Erleichterung. Dass die Schmerzen von Verspannungen und Verkürzungen der Muskeln, Bänder und des Bindegewebes herrühren, weil sich der Patient zu wenig bewegt, zu viel sitzt, zu viel Stress hat, fällt nicht in den Aufgabenbereich der orthopädischen Medizin. Dazu müsste man den Menschen in seinem gesamten biographischen und ökologischen Zusammenhang in den Blick nehmen: seine Motivation, sein Selbstverständnis, seinen Beruf, seinen Alltag.

Rückbesinnung auf den Leib und die Leiblichkeit

Erst die phänomenologisch orientierten Philosophie des 20. Jahrhunderts, in die sich auch der Begründer der Neuen Phänomenologie Hermann Schmitz einordnen lässt, hat das leibliche Erleben und die Leiberfahrung dezidiert aufgegriffen. Sie versuchte, die Differenz von Leib und Körper begrifflich präzise zu erfassen und beides aufeinander zu beziehen.   

Helmuth Plessner 1939 in Groningen
Helmuth Plessner(1939)

Helmuth Plessner (1892-1985), ein Vertreter der Philosophischen Anthropologie, schlug vor, den Menschen als „personale Lebenseinheit“ zu sehen. Entsprechend verstand er den Menschen als Subjekt und Objekt seines Lebens: Der Mensch kann sich also selbst sowohl Gegenstand als auch Zentrum sein. Für ihn war es der unaufhebbare Doppelaspekt der menschlichen Existenz, dass der Mensch einen Körper habe und sein Leib sei.  

der Mensch als Leib in der Mitte einer Sphäre, die entsprechend seiner empirischen Gestalt ein absolutes Oben, Unten, Vorne, Hinten, Rechts, Links, Früher und Später kennt, eine Ansicht, die als Basis der organologischen Weltanschauung dient und der Mensch als Körperding an einer beliebigen Stelle eines richtungsrelativen Kontinuums möglicher Vorgänge, eine Ansicht, die zur mathematisch-physikalischen Auffassung führt“ (Plessner 1975, 294).

Helmuth Plessner (1975): Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie. Berlin u.a., 294.

Das bedeutet, dass der Mensch sich und die Welt unmittelbar erlebt und erfährt. Er kann sich aber auch der Welt und sich selbst gegenüberstellen. Menschen können sich ihres Erlebens und ihrer Gefühle bewusst werden, genauso wie die sie umgebende Welt für sie zum Gegenstand werden kann.

Maurice Merleau-Ponty
Maurice Merleau-Ponty – Foto: Wikipedia

Die in den Ansätzen der philosophischen Anthropologie enthaltenen Gedanken sind vor allem im Zusammenhang phänomenologischer Fragestellungen aufgenommen und fortgeführt worden. Hier ist u.a. Maurice Merleau-Ponty (1908-1961) zu nennen. Merleau-Ponty bestimmt den Leib als „natürliches Subjekt“ (Merleau-Ponty 1966, 234). Damit ist er „weder Ding noch Bewußtsein, sondern eine unent­behrliche Vorgabe meiner selbst“ (Waldenfels 1983, 167). Über den Leib sei der Mensch in der Welt verankert; er sei sein Medium zur Welt.

„So bin ich selbst mein Leib, zumindest in dem Maße, in dem ich einen Erwerb mein Eigen nenne, und umgekehrt ist mein Leib wie ein natürliches Subjekt, wie ein vorläufiger Entwurf meines Seins im Ganzen.“

Maurice Merleau-Ponty (1966): Phänomenologie der Wahrnehmung. Berlin, 234.

Alphabet der Leiblichkeit

Hermann Schmitz hat in seinem zwanzigbändigen „System der Philosophie“ (1964-1980) gezeigt, dass es vor jeder Subjekt-Objekt-Trennung schon ein subjektives „Bewußt­haben“ gibt, das im Spüren der eigenen Leiblichkeit gründet. Auf diesem angebo­renen eigenleiblichen Spüren beruht ein leiblicher, vorreflexiver Zugang zur Welt, der schon Säuglingen in bestimmten Momenten möglich sei. Auf dieser Grundlage entwirft Schmitz ein „Alphabet der Leiblichkeit“, mit dem die leiblichen Regungen erfasst und vor allem benannt werden können. Damit wird ein großer Teil unserer Erfahrung, der bisher unaussprechlich und in unser Inneres verbannt war, kommunizierbar und in seiner Bedeutung für das Leben in all seinen Bereichen erkennbar.

Die Leibdimension in der Pädagogik erforschen

Foto: bill wegener

Das kann auch für pädagogische Kontexte weitreichende Folgen haben. Pädagogische Settings wie der Familie, dem Kindergarten, der Schule, aber auch Kurse in der Erwachsenenbildung, lassen sich weitaus umfassender verstehen, wenn man subjektiv-leibliche Dimension dabei mit berücksichtigen und wissenschaftlich beleuchten kann. Nicht alles was Lernen und pädagogisches Handeln beeinflusst, lässt sich sprachlich fassen oder statistisch auswerten.

Spannungsreiche oder entspannte Atmosphären kann man nicht sehen, aber spüren und am eigenen Leib erfahren. Sie entstehen durch Raum- und Zeitstrukturen, im sozialen Miteinander, durch biographische Konstellationen oder materielle Umweltbedingungen. Sie beeinflussen aber wesentlich Lern- und Erziehungssituationen und die Rezeption pädagogischen Handelns mit. Die Herausforderung besteht darin, den richtigen forschungsmethodischen Zugriff zu finden. Eines steht fest: Dieser kann nur im qualitativen Bereich angesiedelt sein.

Literatur:

Waldenfels, Bernhard (1983): Phänomenologie in Frankreich. Frankfurt am Main

„Leib sein“ und „Körper“ haben – Gibt es einen Unterschied zwischen Leib und Körper?